"Ein Atemzug ist eine Skulptur"

(Marcel Duchamp)


MUSIK FÜR RÄUME ist Musik, die auf die Zeit als Gestaltungsebene verzichtet. In ihr gibt es keine Höhepunkte, keine Entwicklungen, keine Spannungsabläufe, keine Dramatik.

MUSIK FÜR RÄUME erzählt keine Geschichte. Es gibt bei ihr nichts, das vorher gehört werden muss, um Nachfolgendes verstehen zu können.

Vorher und Nachher sind austauschbar.

MUSIK FÜR RÄUME dehnt Momente aus, fasst Dauern zusammen, macht Gegenwart dingfest. Gegenwart, die die Bedeutung jedes einzelnen Bausteins und seine Beziehung zu jedem andern und zu deren Gesamtheit festlegt.

Ausbalancierte Zeit, die in der Erinnerung zum Zeitpunkt gerinnt.

MUSIK FÜR RÄUME ist Raum konstituierende – und in diesem sich ausbreitende – Zeit. Sich ausbreitend, Netze knüpfend, um ihre Verknüpfungspunkte Gestalten bildend; Skulpturen; musikalische Gesten; energetische Zustände.

Das dem Auge Abgewandte erinnernd, das Verklungene vergegenwärtigend, wird Zeit zum Raum.

Tonhöhen, Klangfarben, Impulsdichte, Tempo, Intervalle, Hüllkurven, Dynamik, Klangstrukturen sind, vergleichbar den Haltepunkten des architektonischen Raumes, zwischen denen das Auge geführt wird, die sozusagen plastischen Teile, die sich zum musikalischen Raum fügen, dessen Inneres freiliegt und der dem hörenden Zugang geöffnet ist.

MUSIK FÜR RÄUME ist Raum.


Walter Fähndrich



MUSIC FOR A QUARRY

 

Täglich, zum Zeitpunkt des astronomischen Sonnenunterganges, erklingt im Hoosac Marmor - Steinbruch für 15 Minuten eine Musik.

Eine Musik, extra für diesen Raum gemacht, – aus diesem Raum gewonnen.

Keine Geschichte wird hier erzählt. Ein Raum beginnt für die Ohren zu leben; täglich 15 Minuten aus einem Kontinuum von nicht fassbarer Ausdehnung; – doch, Dauer spielt hier keine Rolle: Ein Raum wird hörbar, in diesem Übergang vom Tag zur Nacht.

Täglich wechselt die Abfolge der Klänge, die einzeln, zu zweit, zu dritt erscheinen, mit Pausen durchsetzt, sich miteinander verschränkend, sich gegenseitig stützend und Raum lassend; sanft, ruhig, spielerisch und unvorhersehbar, – offen; – ein feines Netz durch dieses Halbrund spinnend.

Atmet die Dämmerung? – Kleine Irrlichter scheinen auf; – die Felsen singen –.

War das alles nicht schon immer da?


Walter Fähndrich


 

 
EIN ALPSEGEN

 

Eine Klangskulptur durch die Dämmerung

Wer sommers nach langer Wanderung vom Muotatal her über den Pragel-Pass ins Klöntal hinunterkommt, in gemächlichem Abstieg auf der wenig befahrenen Strasse oder einem der Seitenwege, wer schliesslich über eine Brücke den Kanton Schwyz verlässt und das Glarnerland betritt, abends, wenn die Sonne bereits hinter den Bergen verschwunden ist und allmählich die Dämmerung einsetzt, wird dort in Zukunft leiser, unaufdringlicher, lange ein- und ausschwingender Klänge gewahr werden, die den Raum, das Tal durchmessen, erfüllen vielleicht auch, obwohl sie nichts Erdrückendes haben. Vielleicht wird sich dabei für die Wandernden die Klanglandschaft gänzlich verändern, wird sie sich gleichsam in ein anderes Licht tauchen, wird sie für einen Moment zum Ort mit einer magischen Ausstrahlung, an dem man auf einmal versteht, warum die Menschen früher Alpsegen sangen.

Man betritt einen Ort, der sonst ruhig ist und der später wieder zur Ruhe zurückkehrt, der aber in der Dämmerung von Klängen durchdrungen ist, die versuchen, sich in den Raum zu bringen, ihn zu messen gleichsam. Eine Klangskulptur atmet an diesem Ort, eine Klangskulptur, um die man allerdings nicht herumgehen kann, sondern die einen vielmehr umgibt. Sie ist wie ein erratischer Block aus Zeit, doch gänzlich unmonumental. Ein Atemzug, so sagte einmal Marcel Duchamp, sei eine Skulptur. Das gilt ähnlich für EIN ALPSEGEN von Walter Fähndrich.

Das Zeitlose (das ständig Gegenwärtige) tritt hier wie selbstverständlich zutage. Allenfalls das Wetter mag die Klänge runterspülen oder sie wegblasen, all das wird hineinspielen in die Wahrnehmung. Nicht das Wetter aber komponiert, wie man es vielleicht von einer solchen Klanginstallation erwarten könnte, sondern Walter Fähndrich. Er bestimmt die Klangcharakteristika auf allen Ebenen. Die langen, raren, differenzierten Klänge aber, die wie von einer unsichtbaren Orgel her durchs Tal getragen werden, generiert von einem Computer hoch über dem Gasthaus Richisau, scheinen von allem unberührt, sie scheinen nur da zu sein. Sie kümmern sich auch nicht um all die religiösen und historischen Kontexte, die der Titel hervorrufen könnte. Sie beziehen keine geschichtliche Position ausser die der Gegenwart. Sie sind Klang.

Wenn man nun also vom Pragel-Pass herunterkommt nach Richisau, taucht man in diesen Klang ein, wobei Eintauchen schon fast zuviel gesagt ist, denn es handelt sich nicht um ein Klangbad. Es entspricht eher jener Beschreibung, die Fähndrich einmal selber von seiner MUSIK FÜR RÄUME gemacht hat: Sie sei «der Dämmerung vergleichbar, die die betrachteten Dinge verhüllen will und uns im Unklaren darüber lässt, ob - bei längerem Betrachten - deren Deutlicherwerden ein Hingleiten in das Kennenlernen ihrer Strukturen oder ein Abgleiten in die Imagination bedeutet».

Auch dieser Alpsegen, EIN ALPSEGEN, eine Art Alpsegen, dessen Beginn und Ende zwar vernehmbar sind (die Anfangszeiten werden bekanntgegeben), aber nicht eine Form fixieren, «erscheint». Er ist eine Erscheinung in jener Stimmung, wenn die genaue Wahrnehmung des Tages in der Müdigkeit abgenommen hat, die Sinne aber noch nicht darauf eingestellt sind, die Dunkelheit zu durchdringen. So sinnlich das wirkt, so radikal ist es in sich: konsequent aus einem Grundmaterial gezeugt, geschlossen und dabei doch offen gehalten. In diesem Spannungsfetd lebt die Musik Fähndrichs. In dieser frei strömenden Klanglichkeit ohne Anfang und Ende, in diesem Zeitgefühl werden neue Erfahrungen, innere Erlebnisräume möglich.

Das heisst auch: Es handelt sich um keine sogenannte Beschallung! «Beschallen ist für mich ein aggressiver Akt», sagt Fähndrich, «etwas Aufgesetztes, Gewaltsames». In diesen Alpsegen aber tritt man ein. Man kann sich darin bewegen. EIN ALPSEGEN wird zu diesem Ort, wird zum Richisau für jeweils eine Viertelstunde in der Dämmerung. Die Musik ist dieser Raum gibt ihm eine klangliche Identität, und auch das Sehen und Fühlen verändert sich in dieser Klanglandschaft. Ganz leise also wird der Wanderer, wenn er nach einer langen Wanderung ins Richisau hinunterkommt, in eine Dämmerung besonderer Art aufgenommen.


Thomas Meyer

 



 
MUSIK FÜR RÄUME

 

Walter Fähndrichs eigene Kollektiv-Bezeichnung für ein wichtiges Segment seines musikalischen Werkes scheint mehr offen zu lassen, als sie bestimmt. Insbesondere schweigt sie sich über die musikalische Methode aus - im Unterschied beispielsweise zum Begriff der <Zwölftonmusik>. In Texten und Gesprächen allerdings gibt Walter Fähndrich doch Aufschluss, zum Beispiel in dieser Form: Tonhöhen, Tonlängen und die Häufigkeit des Erscheinens der einzelnen Töne wurden den Raummassen entnommen. Tempo, Hüllkurven, Klangfarbe, Dichte und Lautstärke der Musik sind dem Charakter und der Ausstrahlung des Raumes entsprechend gewählt. Klar getrennt voneinander, nennt Walter Fähndrich objektive und subjektive Elemente, welche die musikalische Konstruktion bestimmen.

Die erstgenannten Faktoren sind die Masse eines bestimmten Raumes, die durch den Komponisten nicht beeinflusst werden können. Von ihnen leitet er eine Tonreihe ab, auf die er sich dann für die ganze Komposition verpflichtet. Er wählt ein modales Prinzip, das mit gewissen Reihentechniken vergleichbar ist. Offenkundig ist die Abwendung vom Harmoniebegriff klassischer Komposition. Offenkundig aber auch der geringere Zwang zu musikalischer Erfindung. Wohl kann der Komponist sich entscheiden, welche Tonhöhe, welche Tonlänge und welche Häufigkeit des Erscheinens der einzelnen Töne er demjenigen Raummass zuordnet, das er als Bezugsgrösse bestimmt. Die innerhalb der Tonreihe herrschenden Relationen werden ihm dann aber durch die Proportionen des Raumes vorgegeben. Seiner Arbeit liegt ein unabhängig von dieser bestehendes Raster zugrunde.

Der Komponist entscheidet sich für die externe Bestimmung eines bedeutenden Teils seines musikalischen Materials und der Ordnung, welcher dieses in der Komposition unterliegen wird. Zweifellos hat das wesentlich mit der Suche nach überindividueller Bestimmung von Kunstwerken (nicht nur Werken der Musik) zu tun, einem entscheidenden Motiv der Moderne, der radikalen Individualisierung gegenüberstehend, die auf der anderen Seite ebenfalls zur Moderne gehört - komplementäre Bewegungen des Bruches mit der Genieästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts. Dabei verdankt sich das Interesse an Strategien unpersönlicher Autorenschaft dem Wunsch, Momenten der Welt zur Selbstpräsentation zu verhelfen im Unterschied zu deren Repräsentation. Letzten Endes aber geht es der Moderne um die Präsentation von Musik (von Malerei, von Skulptur) als solcher, unter Ausschluss von allem, was nicht elementar zu der jeweiligen Kunstform gehört. Zugunsten dieser Selbstreferentialität wird danach gesucht, jede Beziehung zu ausserhalb liegenden Wirklickeitsbereichen zu unterdrücken. Schönberg hat daher die Zwölftontechnik definiert als (Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen) (meine Hervorhebung).

Inwieweit kann Walter Fähndrichs Methode als kritische Antwort auf die Dominanz hermetischer Praktiken in der Moderne verstanden werden? Seine Tonreihe ist auf die Masse eines gegebenen Raumes bezogen, wichtige Relationen sind strikt von diesen Massen abgeleitet. Damit ist seine Tonreihe explizit referentiell, in scharfem Unterschied zu einer Zwölftonreihe. Walter Fähndrich sucht offensichtlich nach einer Alternative zur Selbstbezüglichkeit, zur konzeptuellen Verschliessung der Kunst der Moderne. Doch ist Referentialität in der <MUSIK FÜR RÄUME> von entscheidend anderer Art als beispielsweise in einem Musikstück, welches die vier Jahreszeiten evoziert. Es gibt keine Rückkehr zu vormodernen Darstellungsformen, auch nicht in der manchmal postmodern genannten Form des Einsatzes geschichtlicher Versatzstücke. Denn der architektonische oder auch der landschaftliche Raum sind für die Musik im allgemeinen keine beliebigen Grössen. Sie als Bezugsgrössen zu wählen, hat für Walter Fähndrichs Musik zwingende Gründe. Der Raum gehört zu den wesentlichen Bedingungen jeder musikalischen Realisation (nicht unbedingt, jedenfalls nicht in der gleichen Weise, zu den Bedingungen ihrer Konzeption). Grundsätzlich bedarf es des Raumes, damit tonerzeugende Schwingungen entstehen und sich ausbreiten können. Im besonderen beeinflusst die Art eines gegebenen Raumes mit seinen spezifischen Reflexions-Eigenschaften die Wahrnehmung von Tönen oder Klängen.

Indem sich die Musik auf einen Raum bezieht, bezieht sie sich auf eine ihrer fundamentalen Bedingungsgrössen. Mit derartiger Referentialität lässt sich ein Ausbruch aus der hermetischen Geschlossenheit des modernen Kunstwerkes bewerkstelligen. Vor allem wird mit dem modernen Mythos der Kunstautonomie gebrochen, indem die Musik ausdrücklich auf eine sie bedingende Gegebenheit verweist. Das bedeutet auch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit und des Interesses von der konzeptuellen Form der Musik auf ihre perzeptuelle Realität. Mit dem Verweis auf den sie bedingenden Raum aber wird andererseits das Feld der Musik im modernen Sinne nicht wirklich verlassen. Referentialität in Walter Fähndrichs <MUSIK FÜR RÄUME> ist Rückbezüglichkeit innerhalb eines Feldes der Musik, das um Elemente ihrer Perzeptionsbedingungen erweitert ist.

Offensichtlich kommt dieser Vorgehensweise die schon in der Antike bemerkte Analogie von Musik und Architektur zugute, die darauf beruht, dass in beiden Massverhältnisse wirksam sind. Insofern allerdings nicht etwa ein klangliches Ausdrucksäquivalent zur Proportionalität des Raumes gesucht wird, sondern die räumlichen Proportionen in den Relationen der Tonreihe ihren direkten Niederschlag finden, ist die rhetorische Geste keine der Metapher, sondern eine der Metonymie. In der Terminologie von Roman Jakobson formuliert, gehören bei Walter Fähndrich Raumproportionen und Tonrelationen dem gleichen Paradigma von Massbeziehungen an.

Das musikalische Material wird nicht nur von den Massen eines gegebenen Raumes abgeleitet, sondern die Musik, elektronisch generiert, wird in einer <Klanginstallation> in diesem Raum selbst über Lautsprecher wiedergegeben. Sie wird in den Raum zurückgegeben. Wohl existieren Tonbandaufzeichnungen derartiger Musik, doch wenn sie an einem beliebigen anderen Ort unter anderen Bedingungen abgespielt wird, wird sie zwangsläufig auch anders wahrgenommen. Es lässt sich fragen, mit welchem Recht überhaupt davon die Rede sein kann, es handle sich in beiden Fällen um dieselbe Musik. Wird die Musik jedoch in demjenigen Raum gespielt, dessen Masse zu Tonhöhen, Tonlängen und der Häufigkeit des Erscheinens der Töne in Analogie stehen, ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Musik und Raum, der nach Roman Jakobson die poetische Struktur ausmacht, wobei der Verweis auf Jakobsons Theorie fruchtbar sein dürfte, selbst wenn es sich dort in erster Linie um eine literarische Theorie handelt. Elemente desselben Paradigmas werden in einen Zusammenhang des Nebeneinander oder Miteinander, einen syntagmatischen Zusammenhang gebracht. Die Drehung der paradigmatischen Achse in die Horizontale des Syntagmas aber unterscheidet sich fundamental von der Aneinanderreihung von Elementen verschiedener Paradigmen, die für die narrative Struktur charakteristisch ist.

Das schliesst nicht einmal aus, dass eine bestimmte Tonfolge, eine bestimmte Musik von Walter Fähndrich narrative Eigenschaften hat. Im Gegenteil: Einerseits können Räume etwas Narratives an sich haben, selbst wenn es sich nicht ausdrücklich um eine <architecture parlante> handelt. Im allgemeinen Sinn narrativ können die Verhältnisse zwischen Tragen und Lasten, von Oben und Unten, Davor und Dahinter, von hauptsächlichen und untergeordneten Zügen der Architektur usw. wirken, denn sie steuern den Wahrnehmungsprozess und die Bewegung des Besuchers in einem bestimmten Raum, beherrschen eine Zeitenfolge, die im Sinne einer Abfolge vom Anfang über die Durchführung zum Ende organisiert sein kann, aber nicht sein muss. Walter Fähndrichs Kompositionsmethode dürfte dann die Möglichkeit beinhalten, dass die narrative Struktur eines gegebenen Raumes sich in der Musik niederschlägt, auch wenn diese auf der Umwandlung qualitativer Massverhältnisse in quantitative beruht, auch wenn mit kompositorischen Massnahmen die Gleichmässigkeit eines Geschehnisses angestrebt wird. Andererseits ist es sehr schwer, zumindest abstrakt narrative Charakteristika in einem musikalischen Verlauf zu vermeiden, der auf dem Nacheinander unterschiedlicher Elemente beruht. Ein Anliegen der seriellen Musik beispielsweise ist es, auch diese abstrakte Narrativität zurückzudrängen, wenn nicht auszuschliessen.

Eine wesentliche Dimension der Musik von Walter Fähndrich nun ist, trotz der unausweichlich erscheinenden narrativen Struktur der Musik einen nicht-narrativen Zusammenhang zu realisieren, den Zusammenhang zwischen dem gesamten strukturierten Tonvorrat und der räumlichen Gegebenheit insgesamt nämlich, einen Zusammenhang auf einer anderen Ebene. Der <poetische> Zusammenhang zwischen den beiden komplexen Konstruktionen, der musikalischen und der architektonischen, kommt dadurch zustande, dass sie jeweils als Einheiten genommen werden, nebeneinandergesetzt, wechselseitig ineinandergesetzt als Elemente desselben Paradigmas. Anders formuliert, wird der latent narrative Charakter der Tonfolge aufgehoben durch ihre Beziehung zu den Raumproportionen, werden umgekehrt auch die narrativen Eigenschaften der Architektur aufgehoben durch die Beziehung zu den Tonverhältnissen, in Verbindung mit denen sie jeweils wahrzunehmen sind. Der Wahrnehmung präsentiert sich ein Zustand, der zeitliche Verläufe und narrative Folgen umfasst. Wichtig dabei ist, dass eine <Beziehung> besteht, bestehen bleibt, es zu keiner Totalisierung kommt. Es bleibt ein Unterschied, der dafür einsteht, dass die Architektur noch (oder überhaupt erst) zu sehen, die Musik zu hören, oder die Architektur zu hören und die Musik zu sehen ist. Die Bedingung für den <Zustand> ist zugleich auch Bedingung für seine innere Unterschiedenheit.

Die essentielle Verschiebung von der Konzeption zur Wahrnehmung in Walter Fähndrichs <MUSIK FÜR RÄUME> scheint über die bisher berücksichtigten weitere kompositorische Massnahmen nötig zu machen, diejenigen, welche eingangs als subjektiv bezeichnet wurden. Ziel dabei bleibt, Musik und Architektur weitestmöglich einander anzunähern, so dass die Musik nicht etwa als artifizielles Element im Raum erscheint, als seine Möblierung oder gar Beschallung, sondern dass es im Gegenteil erscheint, als bringe der Raum selbst die Musik hervor. Ein Komplex aus vielen Elementen eines Raumes bestimmt, wie er wahrgenommen wird, mit Gewissheit nicht nur seine Massverhältnisse: Grösse, Lichtverhältnisse, architektonische Details, Material, Echo und vieles andere mehr. Es handelt sich um Elemente, die nur schwer bemessen werden können und die vor allem gemeinsam und kaum voneinander trennbar jene Wirkung entfalten, die ich als Stimmung des Raumes bezeichnen möchte. Die Stimmung, die Empfindung des Raumes ist es, auf welche sich der Komponist mit der Festlegung von Tempo, Hüllkurven, Klangfarbe, Dichte und Lautstärke der Musik bezieht. Da die Stimmung eines Raumes aber Sache der subjektiven und individuellen Wahrnehmung ist, wird es Sache von subjektiven kompositorischen Entscheidungen sein, die verschiedenen Erscheinungsweisen der Töne zu bestimmen, und es werden sich metaphorische Momente in die Beziehung von Musik und Architektur einnisten - was allerdings genau so formuliert werden muss, um dem Missverständnis vorzubeugen, die (Musik für Räume) sei eben doch expressive Repräsentation.

Die Ableitung einer Tonfolge von gegebenen Raummassen kann zwar Grundlage einer <MUSIK FÜR RÄUME> sein, ergibt jedoch nicht ausreichend Material für eine Musik, die möglichst weitgehend mit dem wahrgenommenen Raum koinzidiert. Wird dieser Mangel dadurch ausgeglichen, dass der Komponist zusätzliche (subjektive) Entscheidungen trifft, kommt es notwendigerweise zu neuen Diskrepanzen. Es wird sich eine Situation ergeben, wo verschiedene Hörer Raum und Musik und deren Beziehung zueinander in viel höherem Masse unterschiedlich wahrnehmen, als es auf der Grundlage ausschliesslich <objektiver> Kompositionsentscheidungen der Fall wäre. Oder zumindest wird die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Wahrnehmung stärker ins Bewusstsein treten. Walter Fähndrich sieht das nicht als Nachteil oder gar als Schwäche seiner Konzeption. Vielmehr erkennt er diese Diskrepanz mit dem Plural in der Bezeichnung <MUSIK FÜR RÄUME> ausdrücklich an. Er unterstreicht so, dass seine Musik sich nicht nur auf den Raum bezieht, von dem sie abgeleitet ist, sondern auch andere Räume evoziert, Räume der Vorstellung.

In der Folge nutzt Walter Fähndrich Möglichkeiten, die sich aus der Nicht-Koinzidenz von architektonischem Raum und Vorstellungsräumen ergeben, indem er durch die Art der Lautsprecherinstallation beispielsweise ein akustisches <Fenster> in den gegebenen Raum einsetzt. Andererseits führt er den Vorstellunsraum damit in den Rahmen der Architektur zurück. Seine Musik ist für die Öffnung, das Hören von Räumen bestimmt. Die Technik der Ableitung einer Tonreihe ist notwendiges, jedoch nicht hinreichendes Mittel für die Komposition solcher Musik. Vor allem stehen - anders als möglicherweise bei der Zwölftonmusik - nicht Produktionsmethoden im Mittelpunkt von Walter Fähndrichs Denken, sondern Wahrnehmungseffekte, daher <MUSIK FÜR RÄUME>.

 

Ulrich Loock



 
KLINGENDE RÄUME
ZU WALTER FÄHNDRICHS MUSIK FÜR WEIMAR

 

Fähndrichs Musik für Weimar schliesst nicht an die musikalischen Traditionen der Kulturstadt an: weder ans erste Opernhaus in Deutschland, noch an den jungen Bach, weder ans deutsche Singspiel, wie es Wieland vorschwebte, noch an Goethes Liedkunst oder Liszts Symphonische Dichtung. Fähndrich schafft auf neue Art Musik für Räume. Auch die traditionelle Musik erklingt in Räumen, ihr dient der Raum jedoch vor allem zur Vermittlung; sie ist nicht primär aus ihm heraus geschaffen. Anders bei Walter Fähndrich: Die Räume selber - der Ilmbogen, der Schlosshof und die Gedenkstätte beim Belvedere - erfahren eine Umsetzung in Musik, kommen selber, auf je eigene Art, zum Klingen. Diese Musik ist aber nicht nur darauf ausgerichtet, den besonderen Gegebenheiten des Raumes - dem Innen- wie dem Aussenraum - Rechnung zu tragen, sie vermittelt auch jedem Hörer, der sich im Raum bewegt, sein eigenes, ganz persönliches Raum-Klang-Erlebnis, abhängig vom Zeitpunkt des Eintretens, vom gewählten Standort und vom Wechsel der Standorte: bewusste Raumerfahrung durch Klang, zugleich aber, wie Fähndrich einmal formuliert hat, »Impuls für das Entstehen von Vorstellungsräumen, von <Innen>-Räumen«. Was sich hier abzeichnet ist eine neue und eigentümliche Auffassung von Musik als Raumkunst.

Traditionellerweise machen wir uns von der Musik einen andern Begriff. Die in der Neuzeit dominierende und auch uns im allgemeinen geläufige Vorstellung ist die von der Musik als »Sprache der Empfindungen«, wo sich die Natur der Musik in der Nachahmung der menschlichen »Seelenlaute« erfüllt. Das betrifft nicht nur Musik mit Text; auch Musik ohne Text verhält sich im Grunde traditionellerweise - jedenfalls in unserer abendländischen Kultur - meist vokalmusikartig, indem sie Prozesse ablaufen lässt, Geschichten erzählt, handlungsartig sich entwickelt, mithin auf ihre Weise die Vorstellung von der Musik als »Sprache der Empfindungen« zu Grunde legt. Eine solche Musik ist ihrem Wesen nach Zeitkunst. Sie hat ihren Anfang und ihr Ende, Expositionen, Durchführungen, Reprisen, und in dieser Gestaltung erweist sie auch ihre Autonomie gegenüber dem Raum. Bei der Werkwiedergabe, der Aufführung, sind wir an den zeitlichen Vollzug gebunden, wenn wir ein Stück als Ganzes wahrnehmen und verstehen wollen. Ein kurzer Blick auf ein Bild kann uns einen Eindruck vom Ganzen geben, ein kurzes Hinhören auf eine Sonate kann es nicht. Der musikalische Moment hat sein Vorher und sein Nachher; das Nacheinander der Teile hat seine zwingende Ordnung, seine prozessuale, narrative Folgerichtigkeit. Zwar mögen wir uns im Zeitalter der elektroakustischen Musikvermittlung daran gewöhnt haben, Musik anders zu behandeln, durch Ein- und Ausschalten, Hin- und Weghören. Wir sind uns dann aber bewusst, dass wir nur Ausschnitte gehört haben, dass uns der Anfang fehlte oder der Schluss und dass das ganze Stück seine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt und auf bestimmte Weise ordnet und erfüllt. Denn dies ist eben das Gewohnte: Musik als Zeitkunst, Komposition als Gestaltung in der Zeit.

Gewiss: auch diese Art von Musik ist nicht einfach »transitorisch«, nicht einfach nur Zeitkunst; auch hier kann in der Erinnerung eine gleichsam räumliche Gestalthaftigkeit des Ganzen übrigbleiben, überdauern. Und auch während des Hörens können sich räumliche Vorstellungen mit solcher Musik verbinden, je nach persönlicher Disposition und je nach Art des klingenden Ereignisses mehr oder weniger bewusst. Lang ausgehaltene, »stehende« Klänge mit kaum merklichen Veränderungen wie in manchen Werken Ligetis, symmetrische, »blockartige« Gebilde wie in den Bruckner-Symphonien, oder auch die unablässige Wiederholung, »Wiederkehr« eines kleinen Motivs wie in vielen aussereuropäischen Musikstilen: dies alles kann in der Vorstellung der Hörenden zur Suspension der Zeit zu Gunsten räumlichen Erlebens führen. - Manche Komponisten des 20. Jahrhunderts haben denn ja auch den Zwang der Zeit und des festgelegten Vorher und Nachher aufgehoben, indem sie Freiräume für kürzere oder längere Ausgestaltungen liessen oder die Abfolge der Teile nicht festlegten.

Fähndrichs »Musik für Räume« aber geht weiter. Die Frage nach der Kongruenz von Raum und Musik richtet sich hier nicht allein aufs Herkömmliche: etwa auf die Untersuchung des Verhältnisses von Klangstärke zu Raumgrösse oder von musikalischer Informationsdichte zu Nachhallzeit und ähnliches mehr. Zunächst einmal verweist sie auf den grundsätzlichen Sachverhalt, dass das Denken und Sprechen über Musik von jeher mit räumlichen Vorstellungen eng verbunden ist. Nicht für alle Kulturen trifft dies gleichermassen und in gleicher Weise zu; zweifellos sind da Konventionen mit im Spiel, für uns etwa diejenige der Notenschrift, die auf der horizontalen Achse den musikalischen Zeitverlauf und auf der vertikalen Achse die Tonhöhen abbildet. Das mag unser Sprechen von »hohen« und »tiefen« Tönen mitgeprägt haben. Doch schon von Natur aus sind ja Zusammenhänge zwischen Klang und Raum gegeben: Periodische Dichteschwankungen der Materie, die sogenannten Schallwellen, pflanzen sich im Raume fort. Je mehr Perioden pro Zeiteinheit sich abspielen, oder anders ausgedrückt: je höher die Schwingungsfrequenz ist, desto höher ist der Ton und desto kürzer ist - messbar nun in räumlichen Einheiten - die Wellenlänge. Der alltäglichen Vorstellung ist solches leicht zugänglich: die lange Orgelpfeife gibt den tiefen Ton, die kurze den hohen. Und hier regieren - grundsätzlich zumindest und vom speziellen Materialverhalten abgesehen - bestimmte Verhältnisse: Bei den Pfeifen wie auch bei den Saiten ergibt die Halbierung die obere Oktave des Grundtons, das Verhältnis 2:3 die Quinte, 3:4 die Quarte u.s.w. Räumliche Masse entsprechen Wellenlängen, Raumproportionen Intervallen. Damit lässt sich arbeiten, und Walter Fähndrich legt solche Masse und Proportionen - in Weimar etwa diejenigen der Fassade des Schlosses Belvedere - seiner Musik zugrunde.

Nur wäre es verfehlt, darin nun bloss die physikalische Grundlage des musikalischen Materials sehen zu wollen. Jahrhundertelang, in der griechischen Antike und im europäischen Mittelalter, galt Musik - die »scientia musicae« ebenso wie die »ars musica« - als Wissenschaft und Kunst der Zahlen und Zahlenverhältnisse. Die Dreiteilung in »musica mundana« oder »caelestis«, »musica humana« und »musica instrumentalis« zeigt das an. Gegenstand der Reflexion in der ersten, obersten Schicht ist der Makrokosmos: die Planeten im Verhältnis ihrer Bahnen und Umlaufzeiten, also die »Sphärenharmonie«. Auf der mittleren Ebene geht es um den Mikrokosmos, den Menschen in seiner körperlichen, aber auch in seiner geistig-seelischen Proportioniertheit, um seine (postulierte, zu erreichende) harmonische Abbildhaftigkeit der grossen Weltordnung. Erst auf der dritten, untersten Ebene geht es um das, was wir unter Musik verstehen: die (sowohl vokale als auch instrumentale) klangliche Versinnlichung der Zahlen und Proportionen in den melodischen und akkordischen Intervallen ebenso wie im musikalischen Zeitmass.

Dadurch aber, dass ein Repräsentationsverhältnis diese drei Ebenen bestimmt, dass also im damaligen Denken keineswegs von blossen Analogien oder gar nur Metaphern die Rede sein kann, zeigt sich deutlich, dass eine Musik, die klingender Bezug zum Mikrokosmos ist, in ihrer eigenen Proportioniertheit die geistig-seelische Harmonie des Menschen abbilden und befördern soll, kraft ihres wiederum abbildhaften Verhältnisses, das sie an den Makrokosmos als die grosse Weltordnung bindet. - Eine Musik, die mit zugleich räumlich sichtbaren Massen und Proportionen übereinkommt, sie so erst bewusst und erlebbar macht, vermag auf solche Zusammenhänge von neuem und neuartig zu verweisen.

Die Zusammenhänge an sich sind, wie gesagt, nicht neu; die Auffassung der Musik als Kunst der Zahlen und Proportionen hat ihre eigene jahrhundertealte Tradition. Nur dass dieses kosmologische Musikverständnis eben zunehmend hinter das anthropologisch-psychologische, die Vorstellung von der Musik als »Sprache der Empfindung«, mithin als Zeitkunst, zurücktrat. Gänzlich verloren hat sich die Erinnerung an den älteren, räumlichen Musikbegriff und das ihm zugrunde liegende kosmologische Weltverständnis indes nicht. Im frühen 19. Jahrhundert hat der Arzt und Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft einmal darüber spekuliert, ob nicht vielleicht das Tönen der Natur, das, wie er sagt, »jezt als Sturm mit einem rohen und anorgischen Laut erscheint«, in ferner Urzeit »als wirklicher Ton vernommen sey, ob nicht die alten Sagen von der Harmonie der Weltkörper, von den Tönen des Universums, wirklich einige Wahrheit enthielten«. Die reale, komponierte Musik wäre dann Chiffre, Nachklang und Erinnerung jener harmonischen Urzeit.

Auch in Weimars Geistesgeschichte findet sich der Nachklang. So gehört zu Christoph Martin Wielands musikalischen Vorstellungen, die er im Gesicht einer Welt unschuldiger Menschen mit seiner Vision des goldenen Zeitalters verbindet, nicht nur der menschliche Lobgesang, sondern auch die tönende Natur selber als »ein harmonisches Säuseln zwischen den Bäumen, als ob jedes Blatt eine Stimme worden wäre«. Johann Gottfried Herder äussert in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit die Vermutung, der menschliche Verstand habe vielleicht nie »einen weiteren Flug gewagt und zum Teil glücklich vollendet«, als da er »die einfachen, ewigen und vollkommenen Gesetze der Bildung und Bewegung der Planeten aussann und feststellte«. Von der so erkannten harmonischen Weltordnung, so Herder, müsse denn auch die geschichtliche Betrachtung der Menschheit ihren Ausgang nehmen, um den »Spuren jener grossen bildenden Kraft« in allen Teilen und bis ins Kleinste zu folgen. Für Goethe stand, was die Musik betrifft, die Vorstellung von der Sprache der Empfindungen gewiss im Vordergrund; er spricht von ihr geradezu als von »dem wahren Elemente, woher alle Dichtungen entspringen und wohin sie zurückkehren«. In Zusammenhang mit seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten suchte er sich jedoch auch von der andern Seite, der kosmologisch-mathematischen, der Musik zu nähern. So findet sich gegen Ende des Didaktischen Teils der Farbenlehre ein kurzer Abschnitt über das »Verhältnis zur Tonlehre«. Beide, Farbe und Ton, sieht Goethe als »allgemeine elementare Wirkungen nach dem allgemeinen Gesetz des Trennens und Zusammenstrebens, des Auf- und Abschwankens, des Hin- und Wiederwägens wirkend«. Goethe spricht damit Konsonanz und Dissonanz ebenso an wie die Dynamik und die Ausbreitung musikalischer Schwingungen im Raume überhaupt. Die beiden Betrachtungen - die der naturgegebenen Grundlagen und die der »historisch« entwickelten Musik - zu verbinden, erscheint Goethe freilich schwierig; die Auflösung in »ihre ersten physischen Elemente« würde die Gefahr in sich bergen, die »historische« Tonkunst als die »auf seltsamen empirischen, ... ästhetischen, genialischen Wegen entsprungene Musik« geradezu »zu zerstören«. Dass »Zeit und Gelegenheit« zu einer neuen Betrachtung in dem Masse kommen könnte, wie Kunst und Wissenschaft einen neuen Stand erreichen, schliesst Goethe indes nicht aus.

Unter solchen Aspekten regt Walter Fähndrichs Musik für Weimar in der Tat zu neuen, dem Ort auf eigentümliche Weise angemessenen Betrachtungen an. Als Raumkunst, als Räume gestaltendes und Räume schaffendes Klingen erscheint sie uns zunächst, in stetem Wandel begriffen, und dennoch nicht auf zeitliche, handlungsartig narrative Verläufe uns festlegend. Momente verdichten sich zu Eindrücken des Statischen. Bewusst ins Werk gesetzte, aus den Räumen selber gewonnene Proportionen verstärken diesen Eindruck und verweisen eben zugleich auf jene alten Vorstellungen einer musikalisch sich manifestierenden, von der Natur vorgegebenen Ordnung. Und dennoch ist diese Musik alles andere als blosser Vollzug starrer Gesetze. In der Wahl der Klänge - von Instrumenten eingespielt oder am Computer entwickelt -, im Spiel mit den Registern, aber auch in der Vielfalt stets wechselnder ein- und mehrstimmiger Klangfolgen entfaltet sich in ihr volle künstlerische Freiheit. Nur eine Rückbindung an die Naturgesetze ist zwingend: Indem Fähndrichs Musik von Raum zu Raum täglich präzise zum Zeitpunkt des astronomischen Sonnenauf- und -untergangs wechselt, unterwirft sie sich jener höheren Ordnung, die - wie Herder es nachdrücklich betont hat - allem Leben auf Erden vorgegeben ist; denn »der ganze Raum und Wirkungskreis meines Geschlechts ist ... so festbestimmt und umschrieben als die Masse und Bahn der Erde, auf der ich mich ausleben soll«.


Ernst Lichtenhahn